Weltsicht

93-Jähriger vor dem Jugendgericht

Ohne weitere Erklärung mutet das schon komisch an. Natürlich gibt es einen guten Grund hierfür: zum Tatzeitpunkt war der Angeklagte 17 bzw. 18 Jahre. Es geht um einen ehemaligen KZ-Wachmann und spätestens jetzt ist das Ganze schon überhaupt nicht mehr komisch.

Mord verjährt nicht und das aus guten Gründen. Auch die Beihilfe zu Morden, bei denen keine Einzeltaten nachgewiesen werden müssen, sondern bewiesen werden muß, dass der Angeklagte um die Umstände im Lager wußte, wird seit einigen Jahren verfolgt.

Hier wird es schon schwieriger, weil nun langes Abwegen von juiristischen, ethischen, politischen und vielen anderen Argumenten nötig ist, um gerecht Recht zu sprechen.

Für viele ist das absolut eindeutig, wie die Antwort auf die Schuld dieses Angeklagten auszusehen hat. Die einen plädieren dafür einen 93-Jährigen nicht mehr zu verurteilen, der ja selbst noch Kind ohne Jugend war, als er Täter wurde. Die andere Seite plädiert genauso unbeirrt dafür, dass es endlich Zet ist, diesen schlechten Mensch zu verurteilen.

Beide Seiten wirken auf mich oft von eigener Ideologie getrieben und bieten nicht einen Lösungsansatz für ein Problem, das ich – in diesem Fall – nicht so schwarz und weiß sehe, wie diese beiden Sichtweisen zu Gerechtigkeit.

Wie Gerecht wäre es auf der einen Seite, wenn die Menschen, die mitgeholfen haben, andere Menschen zu ermorden, nicht mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert würden? Wie Gerecht ist das für die Opfer, sowohl die getöteten, überlebenden als auch hinterbliebenen? Die Opfer von damals leben bereits ein Dreivierteljahrhundert damit, dass Menschen, die bei der Ermordung ihrer Familie und Freunde geholfen oder zugesehen haben, frei rumlaufen und sich keiner Schuld bewußt sind.

Das ist nicht gerecht.

Auf der anderen Seite: ein Jugendlicher mit 17 im Jahre 1944, der also 5 war, als die Nazis die Macht übernommen haben, wie viel eigene Schuld muß man ihm vorwerfen und ihn dafür verurteilen, selbst wenn er keinen eigenen Mord begangen hat? Konnte diese Generation überhaupt zwische richtig und falsch entscheiden? Wie groß war der Zwang, der auf diesen eingezogenen (also nicht freiwillig gemeldeten) Soldaten ausgeübt wurde, um hier Wachmann zu werden? Hätte er eine Chance gehabt, um diese Aufgabe abzulehnen? Wenn ja: zu welchem Preis: sehr sicherer Tod an der Front?

Die Frage, ob es als Jungendlicher möglich war, um anders zu denken, kann man mit ja benatworten. Es gibt Beispiele hierfür, wie die Geschwister Scholl. Aber wie wir wissen, haben die Jugendlichen der Weißen Rose das zu einem Großteil mit dem Tode bezahlt. Also auch dieses Beispiel kann man von zwei Seiten betrachten.

Dürfen wir heute, mit dem zeitlichen wie gedanklichen Abstand an diese schreckliche Zeit, unsere Maßstäbe ansetzen? Wenn wir das tun, müssen wir dann nicht auch die „mildernden“ Umstände“ berücksichtigen?

Oder gibt es sogar erschwerende Umstände in diesem Fall? Die Familie des Wachmanns war ja anscheinend aufgeklärt genug, um den Nazis nicht blind hinterher zu laufen. Also die Grundlage, um richtiges und falsches Handeln zu unterscheiden, war gegeben.

Wie hätte ich mich an Stelle des Wachmannes mit 17 Jahren verhalten? Ich bin froh, dass ich diese Entscheidung nicht mehr treffen muß, jeden falls nicht mehr mit 17. Gleichwohl denke ich, dass es heute mehr wieder soweit ist, dass Menschen durchaus bange sind, ihre Meinung zu sagen. Den Mund aufmachen, wenn andere laut schreien, das ist der Anfang und erfordert bereits Mut, denn die Schreier haben ja bewiesen, dass ihren Hassreden Taten folgen.

Ich hoffe und bete nur, dass meine Kinder nie in so einen Gewissenskonflikt geraten werden, wie er sich den jungen Leuten in den 40er Jahren gestellt hat. Wenn das richtige Handeln mit Repressalien verbunden ist, eventuell bis hin zum eigenen Tod, dann stellt sich die ethische Frage: wer wagt es hier zu urteilen?

Was den Wachmann betrifft: ich habe Vertrauen in die deutsche Justiz und hoffe sowohl, dass die Opfer ein wenig Gerechtigkeit zurück erhalten und gleichzeitig hoffe ich auf ein Gericht, das dem Angeklagten und eventuell Verurteilten die Gnade zu Teil werden lässt, die seine Opfer bzw. Menschen in seiner Obhut, nicht von ihm erhalten haben.

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