Schluessel abgegeben
„Jetzt gib mir noch den Haustuerschluessel zurueck.“
Seit ich 12 Jahre bin, habe ich einen eigenen Haustuerschluessel. Seit kurzem habe ich nicht nur keinen Haustuerschluessel mehr, weil wir ein elektronisches Schloss in der Haustuer haben, sondern nach mehr als 30 Jahren musste ich auch den Schluessel fuer das Haus meiner Eltern einliefern.
Um es vorwegzunehmen: ich habe einen neuen Schluessel bekommen, zur neuen Wohnung meiner Eltern. Die beiden sind in eine Wohung umgezogen, die mehr ihren Beduerfnissen entspricht, als das grosse Haus, das sie verkauft haben: barrierefrei, passende Zimmeranzahl, Hausmeister und kein Garten.
Den Schluessel fuer das Haus hatte ich natuerlich aus Holland mitgebracht, um ihn abzugeben, es war also eigentlich voellig natuerlich, dass ich ihn auch da lassen musste. Trotzdem war es ganz kurz ein komischer Moment, mitten beim Abendessen, dass meine Mutter in einem relativ deutlichen Ton sagte: „gib den Schluessel zurueck“. Das klang in dem Augenblick so, als ob die Worte: „und verlasse das Haus“ folgen wuerde.
Erstaunlicherweise war das der fast wehmuetigste Moment der ganzen Umzugsgeschichte fuer mich. Am ersten Abend dieser Woche – ich hatte mich eine Woche bei meinen Eltern einquartiert, um zu helfen, ist dann weniger Hilfe geworden als mehr ein Urlaub von der „Heimatfront“ – fragte mich eine Nachbarin, wie es mir damit ginge, dass meine Eltern das Haus verkauft haben. Das Interessante daran, auch wenn ich die Frage Revue passieren lasse, ist, dass es mir wegen dem Haus nur wenig ausmacht.
Natuerlich war das etliche Jahre mein Lebensmittelpunkt. Aber dann doch eigentlich nicht einmal die Haelfte der Zeit, die meine Eltern dort gewohnt haben. Mein Zimmer, in dem ich die ersten Jahre mein Bett und, naja, mein Zimmer hatte, war sowieso schon seit mehr als einem Jahrzehnt das Wohnzimmer der Oma geworden. Das andere Zimmer, mit dem ich danach schon nie recht warm geworden bin, gibt es so gar nicht mehr, weil irgendwann das Dach ein zweites Mal ausgebaut werden musste. Und im letzten Jahrzehnt hatte ich gar kein festes Zimmer mehr, keine Sachen, die ein Zimmer als „mein“ Zimmer markiert haetten und angesichts der wirklich wenigen Besuche bei meinen Eltern, ist das auch voellig in Ordnung. Aber darum fehlt mir das Haus auch nicht wirklich.
Was mir vielleicht ein bisschen leid tut, ist der Ort, den meine Eltern gegen die Kleinstatdt in der Naehe eingetauscht haben. Viele Erinnerungen sind damit verbunden. Aber mehr als Erinnerungen sind das auch nicht. Eine aktive Beziehung zu dem Ort oder den Menschen dort habe ich seit Jahren nicht mehr. Die Menschen, die frueher den Ort ausgemacht haben, sie wohnen dort nicht mehr, leben vielleicht gar nicht mehr, haben nie im gleichen Ort gewohnt und gehoerten nur in die Zeit, in der ich dort gewohnt habe, usw..
Es ist ein bisschen wie die Nostalgie, die mich wenige Wochen vorher kurz getroffen hat: Anfang November hat sich mein Abiturjahrgang getroffen. In der extra erstellten Whatsapp Gruppe wurden dann auch Fotos von dem Abend und von frueher ausgetauscht. Kurz war ich ein wenig ungleucklich, dass ich nicht dabei war. Schnell ist diese Nostalgie aber der Erkenntnis gewichen, dass ich mich mit Leuten getroffen haette, von den ich vor einem Vierteljahrhundert schon die meisten nicht leiden konnte. Hat es mich neugierig gemacht, was aus ihnen geworden ist? Bei einigen sicher. Was haben sie mit ihrem Leben angefangen, wer ist seit Schultagen noch immer ein Paar, wer hat sich von einem totalen A#$$loch in einen guten Menschen verwandelt? Der wahre Grund, um zu so einem Treffen zu gehen, ist eher tiefenpsychologisch zu betrachten. Gut, dass ich das nicht kann (nein, keine Dunning-Krueger-Pszchoselbstanalyse an dieser Stelle). Aber ich vermute sehr, es hat mehr damit zu tun, wieder zu finden, was seit dem Abitur verloren gegangen ist (vielleicht sogar wer), als etwas zu tun, das in die Zukunft schaut.
Der Schluessel ist dieses Gefuehl. Etwas zuruecklassen, von dem ich mir gewuenscht haette, dass manche Dinge und Entscheidungen in den letzten 34 Jahren anders verlaufen oder getroffen worden waeren. Die Moeglichkeit nicht mehr zurueck gehen zu koennen, nicht lokal, sondern in der Zeit. Ein Kapitel, das nun abgeschlossen ist, ohne die Moeglichkeit ein anderes Ende daraus zu machen.
Aber das ist nicht schlimm, denn irgendwie ist doch alles gut gekommen. Die Geschichte vom Haus hat mit viel Aerger, Gerichtsverhandlungen und horenden Kodsten begonnen. Es wurde aber lediglich eine Person mit den Fuessen zu erst aus dem Haus getragen und mit 95 Jahren ist das natuerlich und keine Katastrophe. Viel Streit und auch Krisen gab es in den 35 Jahren, aber alle 5, die noch vor dem Mauerfall eingezogen sind, haben das Haus noch einmal besucht, Abschied genommen, ihren Anteil beigetragen, etwas mitgenomen, dass nicht nur nuetzlich ist, sondern auch mit der Vergangenheit verbindet und allen geht es – den jeweiligen Umstaenden entsprechend – gut.
Schluessel abgegeben, Kapitel abgeschlossen
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