Predigt 28. Juli 2024 in Julianadorp
[ES GILT DAS GESPROCHENE WORT]
[CELLO MUSIK: Paint it black, Wednesday OST]
Wer hat’s erkannt?
Paint it Black, Rolling Stones (Mick Jagger, Keith Richards, 1966)
Weißt Du noch, was Du gesagt, hast, als ich das erste Mal gefragt habe, den Titel im Gottesdienst zu spielen?
Warum?
Interessant, dass diese Denkweise schon in jungen Jahren sich eingeschleust hat.
Die Gretchen Frage – Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?
Das St.Galler Tageblatt hat vor ein paar Monaten genau diese Frage an Mikk Jagger gestellt – also zumindest in der Überschrift.
Zu seinem 80ten Geburtstag, vor einem Jahr und zwei Tagen –
Hat Domradio.de ein Interview veröffentlich – leider auch nicht mit Jagger, aber mit dem Politik- und Kulturwissenschaftler Prof. Volker Eichener.
Zusammengefasst ein paar der Aussagen: Jagger ist durchaus christlich geprägt aufgewachsen, streng anglikanisch. Jagger hat in mehreren Songs religiöse und spirituelle Motive aufgegriffen. Zuletzt übrigens nach dem Interview im letzen Album. Der Gospelsong «Sweet Sounds Of Heaven» ist laut St. Galler Tageblatt das Glanzstück auf dem Album «Hackney Diamonds» der Rolling Stones. Ein Musik gewordenes Gebet.
Vielleicht ist die Kluft zwischen Popularmusik und Kirchenmusik doch nicht so groß oder eben halt doch etwas, das nur in unseren Köpfen besteht.
Einige wenige Cross Over Beispiele sind „Danke für diesen Guten Morgen“, das eine Platzierung in den Hitparaden hatte, „Morning Has broken“, bekannt dank Cat Stevens oder Metallica. Metallica ? Ja, ihre Nummer „To Live is to die” von 1988 ist zwar weitestgehend ein 9 minütiges Instrumentalstück, aber kurz nach Minute 7 zitiert James Hetfield ein Gedicht von niemand anders als Paul Gerhardt.
Ob bei den 2500 Liedern, die für das neue Gesangbuch vorgeschlagen wurden, auch Songs der Stones oder Metallica dabei waren? Oder Genesis mit z.B. Jesus, he knows me? Queen: The Miracle? U2: I still haveb’t found. Ich zweifle dran.
Taylor Swift hat es ja immerhin geschafft, einen eigenen Gottesdienst mit Ihren Liedern zu füllen.
Vielleicht schaffen es ja ein paar Lieder vom Popinstitut der Nordkirche ins neue Gesangbuch. Obwohl – so nett diese Songs sind, mehr als nett sind sie auch nicht. Keine Ohrwürmer. Keine Lieder, die man sich in 30 oder gar 100 Jahren noch anhören möchte.
Ohrwurm ist ein gutes Stichwort, denn so lautet ein Titel einer
Gruppe, die es verdienen würde und vielleicht Chancen hat, ins Gesangbuch zu kommen.
Die Wise Guys, bzw. die Nachfolgeband Alte Bekannte. Titel wie „Engel“ – nicht zu verwechseln mit dem Song von Rammstein – oder das Weihnachtslied „Wir sind nur Ochs und Esel“, wären eine wahre Bereicherung. Wer weiß, vielleicht waren ihre Auftritte bei Kirchentagen Grund genug, dass sie in Erwägung gezogen wurden.
Im Herbst kommt übrigens, wenn ich mich nicht täusche ein Weihnachtalbum der Alten Bekannten heraus.
Ein über 20 Jahre alter Titel eben dieser Wise Guys heißt “Sing mal wieder“.
Das Lied ist gespickt mit Hinweisen und Anspielungen, die ganz deutlich machen, dass hier nicht nur Profimusiker am Werk waren, sondern auch ein Theologe und ein Germanist ihre Sicht und ihr Wissen über das Singen musikalisch verarbeiten.
Sie singen davon, dass mehr als 60 Muskeln beteiligt sind, wenn wir singen. Eine schon fast sportliche Leistung.
Sie erinnern an das Zitat von Johann Gottfried Seume, der 1904 schrieb:
„Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder.“
Der Song fordert auf, dass jeder singen soll, egal, ob klein oder groß, egal wo, in der Dusche, im Auto, in der Kirche, egal ob eine Bachkantate oder ein Kinderlied, egal ob man nun gut singen kann oder wie ich nur laut.
Auch zu jedem Anlass soll man singen.
„Sing, wenn du gewinnst. Aber auch sing, wenn du verlierst.“ Heißt es im Song der Wise Guys und er schließt dann ab mit „Sing auch bei ‚ner Beerdigung“.
Auch das ist etwas, das ja passiert und wie selbstverständlich zu unserer Sepulkralkultur gehört.
Auch in den dunkelsten Stunden des Lebens gilt: Singen macht gesünder, froher, zuversichtlicher und hilft – dank der Produktion von Glückhormonen – gegen Angst, Stress und sogar Depressionen. Singen hilft bei der Bewältigung von extremen Gefühlen und Traumata.
Auch Menschen, die schwere körperliche Arbeit verrichten müssen, bewerkstelligen diese leichter, wenn sie dabei singen. Zunutze machen wir in Julianadorp uns das während der Avond-4-daags. Lustig formuliert würde ich sagen: hier singen eher die Eltern, die mitlaufen und aufpassen müssen, vor Anstrengung und Sorge, denn die Kinder, denen das in erster Linie Spaß macht.
Weniger lustig, sondern sehr ernst und traurig sind diese Wirkung und Funktion der Musik, wenn ich an die Sklaven denke, die auf den Baumwollfeldern ihrer Gutsherren geschuftet haben, und sangen, um ihr Elend besser zu ertragen.
Diese Spirituals, die als Vorstufen des Gospels gelten, spielen eine Rolle auch bei etlichen Aufständen der Sklaven und letztlich der Befreiung der Sklaven in Nordamerika. Die Sprengung ihrer Ketten – der wirklichen Ketten wie der Ketten und Gefängnisse in den Köpfen der Menschen – ist immer auch ein Stück verbunden mit dieser Musik. Und als Vorläufer des Rock sind wir dann auch wieder bei den Stones und ihrer Sprengung der Ketten.
Um Musik, ein Gefängnis und gesprengte Ketten dreht sich auch der Bibeltext, den wir vorhin vorgelsen bekommen haben. Eine Geschichte, die sich vor fast 2000 Jahren abgespielt hat. In der Stadt Philippi, in der römischen Provinz Makedonien sind Paulus und Silas unterwegs.
Sie haben gerade dem Besitzer einer Magd, die wahrsagen konnte und damit ihrem Besitzer viel Geld eingebracht hat, das Geschäft vermasselt. Sie haben den Geist, der es der Magd ermöglichte hellzusehen, ausgetrieben.
Aus Rache haben die Besitzer der Magd die beiden dann verhaften lassen. Aufruhr und das Untergraben der römischen Lebensordnung lauteten die Anklagepunkte.
Der Mob hat das sofort aufgenommen und die staatlichen Befehlshaber ließen die beiden ohne weiteren Prozess erniedrigen und verprügeln.
Und hier schließt sich dann der Lesungstext an.
Nachdem sie verprügelt und ins Gefängnis geworfen wurden.
Was machen die beiden? Beten und singen.
Und durch ein Wunder öffnen sich Türen und Fesseln.
APG 16.23-34: Paulus und Silas im Gefängnis
23 Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Kerkermeister, sie gut zu bewachen.
24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block.
25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen.
26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab.
27 Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.
28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!
29 Der aber forderte ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen.
30 Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?
31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!
32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.
33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen 34 und führte sie in sein Haus und bereitete ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.
Es fällt beim Lesen oder Hören der Geschichte erst einmal schwer zu verstehen, warum dieser Text fest zu den Texten zum Sonntag Kantate gehört oder heute zum Thema passt.
Die Lutherbibel macht es sogar noch schwerer zu begreifen, da sie nur davon spricht, dass Paulus und Silas Gott lobten. Ein Blick in sowohl andere Übersetzungen als auch in den griechischen Text, in dem das Wort „hymnoun“ also Hymnus oder Hymne, vorkommt, macht aber deutlich, dass die beiden gesungen haben und so Gott lobten.
Eine eigentlich absurde Vorstellung. Das finsterste Kerkerloch, mitten in der Nacht und im besten Falle sollte man jetzt Schnarchen erwarten und realistisch betrachtet eher das Schmerzwimmern und Klagegeheul von Gefangenen. Oder ängstliche Stille, man will ja nicht auffallen beim Bewacher.
Und in diese Stille hinein kommen auf einmal ganz andere Töne.
[SHALOM]
Ich stelle mir vor, dass selbst diese beiden mutigen, erfahrenen und gottesfürchtigen Missionare erst einmal ihre Stimme wiederfinden mussten und sie erst leise und verhalten ihr Loblied begannen.
[Shalom Chaverim]
Und ich stelle mir auch vor, dass die beiden keine professionellen Sänger waren und außerdem ihre körperliche Verfassung nicht so war, dass sie auftrittsreif singen konnten.
[shalom chaverim shalom chaverim]
Und doch denke, dass was sie gesungen haben, so eingänglich war, dass die anderen Gefangenen es nicht nur hörten, wie die Apostelgeschichte schreibt, sondern dass sie vielleicht grad so nicht mitgesungen, aber zumindest mitgesummt haben.
[shalom chaverim – ganz]
Sicher war dies nicht das, was die beiden gesungen haben und ein wenig klischeehaft und stereotypisch ist meine Liedauswahl vielleicht auch. Aber ging es Ihnen nicht zumindest auch kurz so, dass sie gerne mitgesummt oder sogar gesungen hätten?
Das ist das ansteckende von Liedern und auch, wenn wir vielleicht nicht ganz textsicher sind oder hie und da eine Note verhauen, so ein Lied bewirkt doch etwas in uns.
Plötzlich ein Erdbeben und die Gefängnistüren stehen offen und die Ketten sind gesprengt.
War es der Lobpreis Gottes, der nicht unerhört geblieben ist? Vielleicht.
Viel interessanter finde ich aber, dass die Gefangenen nicht weggelaufen sind. Das rettet nicht nur dem Wärter das Leben, sondern es ermöglicht auch den Gefangenen, allen voran Paulus und Silas, dass sie ihren fairen Prozess noch bekommen. Dieser Prozess rehabilitiert die beiden schließlich auch, der Justizirrtum, dass römische Bürger einfach so festgesetzt werden, wird aufgeklärt und die beiden werden ehrenvoll aus der Stadt geleitet.
Was macht aber das Singen im Kerker so besonders? Die Situation zum einen. Die Antwort liegt aber auch ein Stück darin, dass das Singen der Gemeinde im Gottesdienst oder als gottesdienstliche Tätigkeit anscheinend ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums sind. In den beiden anderen Buchreligionen sind es im Gottesdienst Vorsänger, maximal noch Chöre, die singen. Instrumente wie unsere Orgel oder gar ein Cello, das von einem Jugendlichen gespielt wird, sind unüblich.
Unsere Lieder, unsere Kirchenlieder sind einheitsstiftend. Über Generationen, Geschlechter und auch Konfessionen hinweg.
Unsere christliche Kultur des Kirchenliedes ist prägend und das nicht erst seit Luthers Zeiten.
Es gibt noch viele Beispiele, in denen Musik religiös oder profan eine besondere Rolle in gerade schweren Zeiten spielt.
Zum Beispiel die Kapelle auf der Titanic, die angeblich bis zuletzt spielte – als letzten Titel einen Kirchenchoral.
Oder ein „Stille Nacht“, das mit dem Weihnachtfrieden in den Kriegsgräben des 1. Weltkrieges verbunden steht.
Ich denke auch an die Menschen in Paris, von denen sich beim Brand von Notre Dame etliche Menschen auf der Straße zusammengefunden haben und Kirchenlieder gesungen haben.
So gehen die Beispiele weiter und ich könnte noch ganz lange über die Wirkung von Liedern im Allgemeinen und ihre Bedeutung im christlichen Kontext im Speziellen weiterreden.
Aber auf eines der bekanntesten Lieder, das unumstößlich mit Gefängnis und Unterdrückung verbunden ist, will ich doch noch eben zu sprechen kommen.
Ich komme auch nicht drum rum, schließlich ist es das Kirchenlied, das laut der Umfrage von 2021 das beliebteste Kirchenlied überhaupt ist.
„Von Guten Mächten treu und still umgeben“.
Bonhoeffer hat den Text eigentlich – wahrscheinlich zumindest – nicht als Liedtext verfasst. Auf einem Blatt Papier hat er die 7 Verse eingebettet in Zeilen, die er kurz vor Weihnachten für seine Verlobte Maria von Wedemeyer verfasste.
Ungewollt hat er den Text zu einem Welthit geliefert
Bonhoeffer war zu diesem Zeitpunkt seit 1 ½ Jahren Gefangener des Naziregimes und sich sehr wahrscheinlich bewusst, dass seine Tage gezählt waren. Und leider waren diese Zeilen auch wirklich die letzten theologischen Gedanken, die von Bonhoeffer überliefert sind.
Umso beeindruckender ist es, wie vertrauensvoll dieses Gedicht ist. Welcher Eindruck und welche zeitlose Ausstrahlung von diesen Versen ausgehen, zeigt sich auch darin, dass es fast 70 Vertonungen gibt.
Das ist auch die Auflösung, warum 11 Lieder in den Top 10 stehen: Von Guten Mächten steht doppelt auf der Liste. Mit zwei Melodien, im niederländischen Gesangbuch steht eine andere.
Wir singen nachher die Fassung von Siegfried Fitz von 1970. Bezeichnend finde ich, dass das Lied mit dieser Melodie nicht wie die ältere Melodie von Abel als Silvesterlied drinsteht, sondern im Teil, der „Geborgen in Gottes Liebe“ überschrieben ist.
Unzählige Menschen schöpfen aus diesen Zeilen Trost für erfahrenes Leid, aber auch Hoffnung auf bessere Zeiten. Das Lied wurde nicht nur übersetzt, z.B. ins Niederländische, sondern es ist seit einigen Jahren auch fester Bestandteil des katholischen Gesangbuches, nachdem etliche katholische Gemeinden es ohnehin bereits jahrelang gesungen haben.
Das ist übrigens eine der Parallelen auch zu „Geh aus mein Herz“, das ja nur kurz nach und noch sehr unter dem Eindruck des 30-jährigen Krieges geschrieben wurde.
Die Botschaft beider Lieder ist eine, die mich immer wieder begleitet und die seit meiner ersten Predigt vor 25 Jahren auch immer wieder Thema meiner wenigen Predigten ist, die ich schreiben darf: Fürchtet euch nicht!
Mein Hebräischlehrer sagte dazu, dass diese Zusage 365-mal in der Bibel vorkommt. Für jeden Tag des Jahres einmal.
Ich habe nicht nachgezählt, aber wenn es eine dieser Stellen gibt, die Bonhoeffer vielleicht beim Dichten begleitet hat, dann ist es Lukas 12,4: „Fürchtet euch nicht vor denen, die zwar den Leib töten, euch aber sonst nichts anhaben können“.
Fürchtet Euch nicht, vielleicht die stärkste und kürzeste Zusammenfassung und Aussage der Bibel bzw. der Menschen, über die die Bibel berichtet.
Wie sehr würde dieses Lied auch auf die Szene in Philippi passen. Paulus und Silas im Gefängnis, gefoltert und weggesperrt. Und doch stimmen sie ein Lied an, voll Vertrauen in Ihren Gott. Geborgen in Gottes Liebe. Von guten Mächten treu und still umgeben.
„Sing mal wieder!“ das war mein Einstieg in diese Predigt. Mit dieser Aufforderung will ich auch abschließen, nicht nur, weil wir gleich gemeinsam die zumindest für mich schönere Fassung des Bonhoeffer Liedes singen werden.
Sondern aus der tiefsten Überzeugung, dass das Singen wie das Beten zu uns und unserer christlichen Identität gehört. Jedes gesungene Lied kann so Teil der Gestaltwerdung von Hoffnung und Veränderung sein.
AMEN
Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen
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